H. Kardel*Ein Soldatenschicksal

…Ein altes litauisches Bauernehepaar fand mich Überlebenden; sie legten mich blutverschmiert in ihr sauberes Bett zur Erstversorgung und versteckten mich in einem Loch in der Uferböschung der nahe gelegenen Ula…

Ona – der Engel

H. Kardel

Im NKWD-Zuchthaus Wilna – Kalvarienberg 195/I hungerten wir Kriegsgefangenen 1945, etwa 3000 – ich fragte die beiden deutschen Lagerärzte Dr. Paetel/Berlin und Dr. Zimmer/Düsseldorf nach der Sterblichkeitsquote: „25 % pro Anno“, monatlich starben etwa 60 Kriegs­gefangene. Das war der Grund meiner Flucht. Es gab einen 5m hohen Zaun mit Postentürmen, umschlossen wurde das alte Zarenzuchthaus von der 200m breiten Wilja. Am 20. November 1945 war ich vor der Einschließung weg, im Schutze der Dunkelheit.

Bei meiner Flucht im November 1945 jagte mich die Garnison Wilna. Vorsichtshalber floh ich Richtung Osten. Im Sumpf fand ich einen Heuhaufen, die Füße erfroren; sie wurden farbig in Rot, Schwarz und Gelb. Litauische Bauern schenkten mir Sohlen aus Baumrinde, bis zum Knie wurden sie mit Lappen und Stricken hoch-gebunden.
Nach Sowjetsitte im Baltikum wurden deutsche Kriegsgefangene auf der Flucht beim Ergreifen entweder mit Füßen und Fäusten getötet oder aber erschossen. Auf einem warmen Ofen schlafend, wurde ich überrascht, floh aus dem hinteren Fenster, barfuß und mit einem Hemd bekleidet. Die Flucht führte über einen 7 km langen See, auf dem Eiswasser stand (um Spuren im Schnee zu verwischen). Ein Bauer packte mich in seine Sauna, die er anbot, eine Flasche Samagorka, Brot und Zwiebeln standen neben den Steinen. Ich trank, aß, schlief, saunierte am nächsten Morgen und war gesund: Die zehn Zehennägel fielen ab, die Füße waren weiß wie die Hände einer Waschfrau. Der Bauer schenkte mir Stiefel, und der Marsch ging weiter.

In Litauen gab es etwa 30.000 Freiheitskämpfer gegen die Sowjet-Okku­panten. Führer in Litauen-Süd war der Ex-Pionier-Oberst Kazimieraicio, wir nannten ihn „Tevas“ (Vater). Ihn begleitete ich als infanteristischer Berater, mit elf Kriegsverwundungen und Ritterkreuz als Stoßtruppführer vor Leningrad. Nach tagelangem Marsch durch die Wälder schliefen wir auf dem Ofen einer einsam gelegenen Bauernhütte. Im Morgengrauen waren sie da, mit 25 Mann Stribuki, den litauischen NKWD-Hiwis. Tevas kam durchs Fenster weg, mich Langschläfer stellten sie an den Baum, das Explosiv-geschoß ging an der Schlagader durch den Hals, trat enteneigroß an der Wirbelsäule aus. Durch die Baumkrone sah ich auf meinen Körper, nichts bewegte sich da, auch die Lippen nicht. Die Stribuki bekreuzigten sich, drehten aus Machorka in Zeitungspapier Zigaretten.

Ein altes litauisches Bauernehepaar fand mich Überlebenden; sie legten mich blutverschmiert in ihr sauberes Bett zur Erstversorgung und versteckten mich in einem Loch in der Uferböschung der nahe gelegenen Ula (heute Paddler-Fluß im Naturschutzgebiet). Abends baumelte von oben ein Topf mit warmer Suppe, die ich schlürfen konnte. Nach Regen stieg das Wasser, schwappte unter meinen Bauch, Männer selbst bis zur Hüfte im Wasser, zogen mich heraus, schafften mich in den Wald auf ein Mooslager, legten einen Schafsfellmantel unter mich und einen über mich.

Dann kam Ona, die mich versorgte; sie war achtzehn. Ich muß zwischen 22 und 23 Stunden täglich geschlafen haben. Ihr Lächeln habe ich mir eingeprägt. Sie legte sich neben mich, zog mir tagsüber das Fell weg, die Aprilsonne des Jahres 1946 schien in die Wunde. Morgens entfernte sie mir kleine schwarze Splitter vom Explosivgeschoß aus der Wunde am Rücken. Mit Leinentüchern fing sie meinen Urin auf und tröpfelte ihn in das große Loch an der Wirbelsäule. Überall gab es „Schnippas“ (Spitzel) und Streifen. Sie war in Gefahr – 10 Jahre Sibirien wären ihr sicher gewesen, wenn nicht mehr. So zog Ona los, Nacht für Nacht, ging bei den Bauern betteln: Rahm, Honig und Eier – stündlich flößte das Mädchen mir dies ein. Später kam ein kleiner Holzwagen, ein kleines Pferd davor, und ab ging es. In einem kleinen Erdbunker erfolgte meine weitere Versorgung.

Nach zwei, drei Wochen war ich wieder auf den Beinen. Wir saßen am Holztisch bei den Bauern, die mich an der Ula versteckt hatten. Die Bäuerin buk Blini (kleine Pfannkuchen), und der Bauer hackte draußen Holz. Wir tranken Milch aus einem Krug und Ona sagte „Juozas, ich liebe Dich“ (Juozas Vokietes = Josef der Deutsche war mein Name). Ich sagte: „Ona, ich muß weiter.“ Über Flüsse und Seen und durch die Wälder war ich kurz vor Weihnachten 1946 in Hamburg zurück – nach dreizehnmonatiger Flucht.

Das Geschehen, auch das mit meiner Erschießung, ist festgehalten im litauischen Partisanen-Standardbuch „Partisanu Gretose“. Das US-amerikani­sche Internet behauptet vierzehn Male: „After the war Kardel was guerilla leader in the Baltic region.“

Zu Besuch kommt Palmira aus Vilnius, eine Musikwissenschaftlerin. Ihre Großmutter hatte Freiheitskämpfer mit einem Schwein versorgt, saß dafür 10 Jahre in Sibirien in einem Lager nahe der chinesischen Grenze. Ich bitte: „Such mir die Ona, heute Anfang Siebzig.“ – „Kommst du dann nach Litauen sie besuchen?“ – „Nein, ich lade sie hierher ein, zeige ihr Hamburg.“

Heute kommt Palmiras Nachricht: „Ich fand ihre Cousine. Ona lebt.“

Ihr Mann ist Naturschützer, sie haben drei Kinder. Ich habe sie nach Hamburg eingeladen; inzwischen sitze ich aber im Rollstuhl.

Wegen des Schusses im April 1946 klage ich seit 1949.
Bisher:

„Vermutlich waren Sie Kriegsverbrecher, sonst wären Sie doch nicht geflohen, der Schuß ist nicht gefallen. Ein Gefangener flieht nicht.“ – Ahnungsloser.

Wegen des Explosivdurchschusses meines Oberkörpers auf der Flucht 1946 steht seit 1949 die gerichtliche Entscheidung immer noch aus – Kriegsfolge oder nicht?

Der Gutachter, im Oberst-Rang, geb. 3/46, also nach dem Kriege, der nie eine Kugel pfeifen hörte, vor dem Sozialgericht:

„Der Schuß hat nicht stattgefunden, so einen Schuß überlebt keiner! Die Narben stammen von etwas anderem.“
Er forderte den Psychiater zu einer Aussage auf, und der befand: „Herr Kardel ist völlig normal, gibt selbst auf schwierige Fragen humorvolle Antworten.“ – Die Gutachter sind die eigentlichen Richter, die Richter sind ihre Beisitzer. Neuer Termin am Landessozialgericht, Kap-Stadtring 1 (Zi. 304), am 15.11.00 um 12.45 Uhr. Ich habe Ona als Zeugin benannt.

(Bis zur Fertigstellung lag das Ergebnis noch nicht vor.)

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