Churchills Verrat an Rudolf Heß

…Einzigartig ist nicht, daß gegen Menschenrechte verstoßen wird, einzigartig ist, daß dieser Gefangene noch heute von allen Vorgängen des Zweiten Weltkriegs peinlich abgeschirmt wird und auch seinen Besuchern gegenüber nur nächsten Angehörigen…

Churchill - war against the German people

Wie Rudolf Heß vom Secret Service entführt wurde

Die Hintergründe seines England-Fluges am 10. Mai 1941

Dr. Karl Otto Braun

In der Geschichte ist der Fall Rudolf Heß einzigartig. Zwanzig Monate, nachdem England Deutschland wegen des Einmarsches nach Polen den Krieg erklärt hatte, sprang Heß unter Einsatz seines Lebens mit Fallschirm und Friedensvorschlägen über dem feindlichen Schottland ab. Trotzdem ist er nach über vierzig Jahren der letzte Gefangene im alliierten Gefängnis in Spandau, für das der deutsche Staat erhebliche Summen aufwenden muß. Er soll dort bis an sein Lebensende sitzen, weil er sich an einer - keineswegs schlüssig bewiesenen»Konspiration zu einem Angriffskrieg« beteiligt habe.

Einzigartig ist nicht, daß gegen Menschenrechte verstoßen wird, einzigartig ist, daß dieser Gefangene noch heute von allen Vorgängen des Zweiten Weltkriegs peinlich abgeschirmt wird und auch seinen Besuchern gegenüber nur nächsten Angehörigen - zu absolutem politischem Schweigen verurteilt ist! Parallel dazu haben die Briten über seine Friedensvorschläge vorsorglich eine Geheimhaltungssperre bis zum Jahre 2017 verhängt.


Der nachfolgende amerikanische Artikel, 1943 noch im Kriege - erschienen, lüftet mindestens teilweise den Schleier über den deutschen Friedensvorschlägen. Es handelt sich um eine Indiskretion der Amerikaner aus diplomatischen Quellen ihres englischen Verbündeten. Der Aufsatz erschien im Maiheft 1943 der kalifornischen Monatsschrift THE AMERICAN MERCURY, die (im Gegensatz zu ihrer heutigen Leitung) durchaus auf dem Boden der regierenden Demokraten stand.

Zwei Monate später erschien dieser Beitrag gekürzt im READERS DIGEST mit der Vorbemerkung: »Nach Allan A. Michie, unserem Londoner Korrespondenten, entspricht dieser Bericht über den Heß-Flug der Version, die von wohlinformierten Journalisten in England vertreten wird.«

Der Sohn des von Heß ausgewählten Verhandlungspartners, James Douglas Hamilton, brachte 1971 in London das Buch heraus: Motive for a Mission, The Story behind the Hess’s flight to Britain. Wir erfahren, daß der damalige - 1944 gefallene - Herzog David Douglas Hamilton von Churchill eidlich zur absoluten Geheimhaltung verpflichtet worden ist (S. 163). Daher finden wir in dem Buch nichts über den Kern der Friedensvorschläge. Im Gegensatz zu der Darstellung des amerikanischen Artikels war aber der Herzog doch herangezogen worden und nicht nur stummer Zuschauer geblieben. Schon am 11. Mai wurde er zu Heß beordert. Dabei erinnerte er sich nicht, ihn während der Olympischen Spiele in Berlin 1936 bewußt gesehen zu haben.

Nachdem Hamilton zu Churchill befohlen war, blieb immer noch ein Rest von Unsicherheit, ob es sich wirklich um Heß handelte. Churchills Reaktion: »Well, Hess or no Hess, I am going to see the Marx Brothers« (damals sehr bekannte USA-Filmkomiker).

Der Kernpunkt des Buches liegt in der Darstellung des Motivs für Churchills brüskierend ablehnende Haltung: Der deutsch-patriotisch gesinnte jüdische Dr. Kurt Hahn, Begründer des Salemer Internats, arbeitete in der Emigration für das Foreign Office und gab folgende Stellungnahme ab: »In Deutschland gibt es eine ungeheure Friedenssehnsucht. Heß ist unbewußt ihr Botschafter. Der Moment ist gekommen, jetzt dem deutschen Widerstand klarzumachen, daß die Briten nie mit Hitler Frieden machen werden, daß aber ein gereinigtes, befreites Deutschland von Britannien nichts zu fürchten haben werde« (S. 178/9).

Wörtlich heißt es weiter:

»Die Antwort auf Hahns Vorschlag war schonungslos. Churchill und sein Kabinett ließen wissen, daß der Nazismus zu tief im deutschen Volk verankert sei, um den Glauben an einen möglichen Widerstand gegen Hitler rechtfertigen zu können. Man denke daran, den Krieg baldigst auf deutschen Boden zu tragen, um den Nationalsozialismus von der Karte Europas wegfegen zu können. Churchill sei entschlossen, nicht wieder auf einen Waffenstillstand wie 1918 hereinzufallen (tricked into), sondern diesmal Deutschland zu zerschlagen und zu besetzen. Deshalb blieb das Geheimnis um Heß so rätselhaft.«

Was hier Douglas Hamilton 1971 schreibt, gleicht exakt Churchills Worten an den in die Emigration gehenden ehemaligen Reichskanzler Heinrich Brüning von 1934 - also vor allen Maßnahmen Hitlers gegen die Bestimmungen des Diktats von Versailles: »Deutschland muß wieder besiegt werden und dieses Mal endgültig. Sonst werden Frankreich und England keinen Frieden haben.«

Am 19. Mai 1941 sprangen bei Luton Hoo zwei SS-Männer in Zivil ab, um herauszufinden, wo sich Heß befand. Sie wurden aufgegriffen, vom Secret Service verhört und erschossen (S. 177/8).

Doch Churchills blinder Haß gegen Deutschland zog den Zerfall des ihm anvertrauten Weltreichs unbarmherzig nach sich. Drei Monate nach dem Opfergang von Rudolf Heß sang Churchill auf dem Schlachtschiff »Prince of Wales«: »Forward Christian Soldiers«. Drei Jahre später mußte er die Schleusen für rote KGB-Diktaturen bis ins Herz Europas hinein Öffnen.

Schon am 8. Januar 1942 erklärte der Labour-Abgeordnete Richard Rapier Stokes: »Britannien sehe sich einer Zukunft gegenüber, wo es Amerikas Helgoland vor Europas Küsten werden würde« (James J. Martin: »The Saga of Hog Island«, Colorado Springs 1977), und Hermann Göring schrieb in seinem Gefängnisbrief an Churchill vom 10. Oktober 1946 in Anspielung auf die Heß-Mission: »Sie (Herr Churchill) sind einer der Meistwissenden um die Möglichkeiten, diesen Krieg zu vermeiden oder ihn doch wenigstens in einem für die europäische Zukunft noch tragbaren Stadium zu beenden. Das Tribunal der Geschichte wird Sie einmal als den Mann in Europa nennen, der mit Ehrgeiz, Intelligenz und Tatkraft das Schicksal der europäischen Nationen unter die Räder fremder Weltmächte geworfen hat.«

Warum Heß nach England kam

Dies ist der aus dem englischen Original übersetzte und nur in unwesentlichen Teilen leicht gekürzte Text des eingangs erwähnten Artikels über die Hintergründe des England-Fluges von Rudolf Heß am 10. Mai 1941 (Zwischentitel fügte die Redaktion ein):

»Warum Rudolf Heß am 10. Mai 1941 direkt nach Schottland flog, ist offiziell niemals enthüllt worden. Der Hauptgrund dafür liegt darin, daß die beiden führenden Strategen der Alliierten, Winston Churchill und Franklin D. Roosevelt, zu jener Zeit glaubten, daß eine Bekanntgabe der Hintergründe ihnen keinen Nutzen bringen würde. Heß wurde daher in die Rumpelkammer historischen Vergessens verbannt, und alle Versuche, diese verrückteste Episode des Krieges zu untersuchen, wurden zielbewußt unterdrückt.

Heute - zwei Jahre nach dem Ereignis - wissen viele Engländer und wenige Amerikaner genau, warum Heß nach England kam. Die meisten, welche die wahre Geschichte kennen, meinen, daß sie jetzt auch erzählt werden sollte. Ein Punkt, der dafür spricht, ist, daß die Kritiker der angloamerikanischen Politik gegenüber Sowjetrußland mit folgender entscheidender Tatsache zum Schweigen gebracht werden könnten: Churchill hat in einem kritischen Moment, als er auf Kosten Rußlands sein Land vom Kriege hätte abkoppeln können, England endgültig festgelegt, an der Seite des jüngsten Opfers der Nazi-Doppelzüngigkeit als vollwertiger Bundesgenosse zu kämpfen. Melodramatisch hätte er solch einen Rückzug Englands vom Kriegsgeschehen als ausgleichende Gerechtigkeit motivieren können; denn war es nicht Stalin, der den Krieg ins Rollen brachte, als er seinen Freundschaftspakt mit Hitler im August 1939 unterzeichnete?

Der britische Premierminister hat aber solch einen Schritt in keinem Augenblick auch nur erwogen. Einige wenige Einzelheiten sind noch unklar. Nur der britische Geheimdienst und mehrere höhere Beamte der Flugüberwachung kennen sie. Einige wenige Tatsachen müssen aus politischen Gründen noch im Dunkeln bleiben. Aber das Wesentliche kann wahrheitsgemäß und nutzbringend erzählt werden. Es stellt eine der faszinierendsten Geschichten der Superintrige in den Annalen zwischenstaatlicher Beziehungen dar. In der Tat ist es ein überlegener britischer Streich, der den Stolz der Nazis auf ihre Diplomatie und ihren Geheimdienst erschütterte. Ja, man kann mit Berechtigung sagen, daß das Heß-Unternehmen auf diplomatischem Gebiet mit der späteren militärischen Niederlage bei Stalingrad gleichrangig ist.

Geflügelter Bote des Friedens

Rudolf Heß ›floh‹ nicht aus Deutschland. Er kam als geflügelter Bote des Friedens. Kein Parsifal in schimmernder Rüstung hatte sich jemals seiner Mission loyaler und bedingungsloser hingegeben. Er kam nicht nur mit Adolf Hitlers Segen, sondern auf Hitlers ausdrücklichen Befehl. Keineswegs war Heß’ Ankunft eine Überraschung. Von einigen wenigen Engländern war sie erwartet worden. In großen Zügen war seine Mission im voraus bekannt, und im letzten Flugabschnitt wurde der Naziführer in der Tat von der britischen Luftwaffe eskortiert.

Auf Grund von verläßlichen Informationen deutscherseits und von Andeutungen, die Heß selbst machte, können wir die Situation in Berlin, die zu dem toll gewagten Unternehmen führte, rekonstruieren:

Anfang 1941 hatte Hitler gegen den Rat einiger seiner Generale beschlossen, seinen ›Heiligen Krieg‹ gegen Rußland nicht länger aufzuschieben. Der Versuch, die westlichen Demokratien ›k.o.‹ zu schlagen, bevor er sich ostwärts wandte, war fehlgeschlagen. Die Alternative war eine Verständigung mit England, die Deutschland freistellen würde, dafür seine ganze Kraft gegen Rußland zu wenden. In gewisser Weise war das nichts anderes als eine Rückkehr zu der Zusammenarbeit des Miinchner Abkommens.

Was auch immer Chamberlain und Daladier damals gedacht haben mögen, die Deutschen hatten jedenfalls ›München‹ als Carte Blanche angesehen, Osteuropa zu beherrschen. Die späteren alliierten Garantien an Polen und Rumänien und die Kriegserklärungen Englands und Frankreichs wurden daher in Berlin als demokratische Hinterlist angesehen.

Im Januar 1941 ließ Hitler versuchsweise sondieren, wie die britische Einstellung gegenüber direkten Verhandlungen wäre. Er wandte sich dabei nicht an die Regierung, sondern an einflußreiche Engländer - darunter den Herzog von Hamilton -, die der in Verruf geratenen ›Anglo-German Fellowship Association‹, der ›Deutsch-Englischen Gesellschaft‹, angehört hatten. Ein international bekannter Diplomat diente als Kurier. Nach einiger Zeit kam eine zurückhaltende Antwort in Berlin an, die um weitere Informationen bat. Langsam und unter großer Vorsicht wurde ein Plan entwickelt, wobei sich beide Seiten nicht allzusehr offenbaren wollten. Als der deutsche Vorschlag, die Verhandlungen auf neutralem Boden zu führen, zurückgewiesen worden war, antwortete Berlin mit dem Angebot, einen Abgesandten nach England zu senden. War nicht schließlich Chamberlain (1938) nach Deutschland geflogen?

Erst sollte es Bohle sein

Als Abgesandter wurde Ernst Wilhelm Bohle, der Gauleiter der Auslandsdeutschen, gewählt. Gut aussehend, in Südafrika geboren, in Cambridge erzogen, war Bohle dem Paß nach Engländer, wenn auch sein Paß längst abgelaufen war. Immerhin schien er für die Mission ideal geeignet. Einige wichtige Auslandsjournalisten in Berlin kamen hinter das Geheimnis, daß Bohle für eine ebenso große wie geheimnisvolle Auslandsaufgabe ausersehen sei. Die Geschichte wurde in die türkische und südamerikanische Presse lanciert, um die britische Reaktion zu erkunden. Als Wochen vergingen und die britische Presse den Ball nicht auffing - demnach Bohle gleichgültig gegenüberstand - wurde man in Berlin unruhig.

Da trat der ›Führer‹ mit einer seiner ›genialen‹ Ideen dazwischen. Bohle sei nicht der richtige Mann, sagte er. Er hat nicht das nationale Format, um die Briten zu beeinflussen. Eine ausgesprochene ›Nazi-Größe‹ müßte gehen, einer, dessen Name untrennbar mit ihm selbst verbunden sei und dessen Erscheinung unbedingt Aufsehen erregen würde. Hitler sagte, es müsse jemand sein, der ›das Gute‹ der deutschen Rasse verkörpere und an dessen Aufrichtigkeit nicht zu zweifeln sein würde. Wichtiger noch, er müßte imstande sein, für die Reichsregierung offiziell zu sprechen und bindende Verpflichtungen im Namen des ›Führers‹ einzugehen. Die Vorsehung, so argumentierte Hitler, hat Deutschland in Walter Richard Rudolf Heß einen solchen Mann gegeben - der Dritte in der Nazi-Hierarchie -, der ganz abgesehen von seinen übrigen Qualitäten im englischen Teil Alexandriens aufgewachsen war, fließend Englisch sprach und ›mit der englischen Metalität vertraut war‹.

Nachdem Hitler sein äußerstes und letztes Angebot übermittelt hatte - nämlich seinen Stellvertreter und engsten Freund direkt nach England zu schicken -, trat in der Antwort eine lange Pause ein. Möglich, daß die unerschütterlichen Engländer einige Zeit benötigten, um sich von ihrem Erstaunen zu erholen. Aber schließlich wurde Adolfs Eingebung gerechtfertigt - eine Annahme des Vorschlags erfolgte, Einzelheiten wurden festgelegt, und am 10. Mai flog Heß ins Zwielicht.

Vier Monate kniffliger Verhandlungen waren dem Flug vorangegangen. Die Deutschen hatten ihren Vorschlag im Namen des Friedens und der nordischen Freundschaft vorgebracht. Ihre britischen ›Freunde‹ waren wohl verhandlungswillig, aber keineswegs zu beflissen und zu optimistisch. Die Schwierigkeiten waren nicht zu übersehen. Es war nur natürlich, daß der Fortschritt langsam war und der Verlauf des Unternehmens seine Hr~hen lind Tiefen hatte

Secret Service greift ein

Was die Deutschen nicht ahnten, war, daß sie mit Agenten des britischen Geheimdienstes verhandelten, die Namen und Handschrift des Herzogs von Hamilton und anderer Adliger der Deutsch-Britischen-Gesellschaft mißbrauchten. Tatsache jedenfalls ist, daß die anfängliche deutsche Botschaft vom Januar 1941, die, wie gesagt, ein hochstehender Diplomat persönlich überbrachte, niemals ihren Adressaten erreichte, sondern vom Secret Service aufgefangen wurde. Von diesem Zeitpunkt an wurde der Meinungsaustausch völlig von verschlagenen britischen Agenten gehandhabt. Die Antworten an Berlin wurden so abgefaßt, daß der deutsche Appetit angeregt und zu der Annahme ermutigt wurde, England suche aus seinen militärischen Schwierigkeiten einen Ausweg. Der Angelhaken war sorgfältigst mit dem Köder versehen, der den drittgrößten Fisch im Nazi-Teich anbeißen ließ.

Vielleicht war es Hitlers verführerische Liebe zu Wagnerschen Kontrasten, die ihn veranlaßte, gerade in der Nacht, als sein Stellvertreter anflog, 500 Tonnen lauten Todes über London abzuwerfen. In jener Nacht war die unterirdische Befehlszentrale des RAF-Jägerkommandos aktivitätsgeladen. Das bis dahin größte feindliche Bombergeschwader griff die Hauptstadt an, alle 15 Minuten überflogen neue Bomberwellen die Küste. Als eine entfernte Radioüberwachungsstation an der schottischen Küste meldete, daß sich ein unbekanntes Flugzeug nähere, klassifizierte es der empfangende Überwacher im Jäger-Kommando als ›einer der unseren‹ und vergaß prompt die Meldung. Doch bald folgte eine zweite: Das Flugzeug konnte sich nicht klar identifizieren, aber seiner Geschwindigkeit nach mußte es ein Jäger sein. Ordnungsgemäß und auf jede Überraschung gefaßt, alarmierte der Empfänger die Befehlszentrale. Tatsächlich wurde auf dem Schirm ein feindliches Flugzeug an Schottlands Ostküste ausgemacht.

Der Richtungspfeil wies nach Westen. Allmählich begannen auch Inland-Stationen das geheimnisvolle Flugzeug auszumachen und es wegen seiner Geschwindigkeit als Jäger einzustufen. Allerdings lag Schottland für deutsche Jäger außerhalb der normalen Reichweite. Der Kommandeur in der Jäger-Befehlszentrale reagierte auf die Meldung in einer Weise, daß sich noch heute seine Untergebenen mehr oder weniger den Kopf zerbrechen. ›Um Gottes willen‹, soll er ausgerufen haben, ›gebt durch, ihn nicht abzuschießen!‹ Innerhalb von Sekunden wurde eine Jägerstaffel in Schottland verständigt, und zwei ›Hurricanes‹ setzten dem geheimnisvollen Flugzeug nach. Sie hatten Befehl, es keinesfalls abzuschießen, aber zur Landung zu zwingen. Während sich die kleinen, roten Pfeile auf dem Bildschirm über Schottland bewegten, beobachteten die führenden Offiziere die Szene mit gespannter Aufmerksamkeit. In der Nähe des kleinen Dorfes Paisley, fast an der Westküste, hielten die Pfeile an. ›Er hat es geschafft‹, brummte der Kommandant. ›Gott sei Dank, er ist unten!‹

Aus Heß wurde Horn

Im schottischen Lanarkshire beobachtete der Bauer David McLean, einen Fallschirmspringer auf seinem Feld. Bis sich der Springer aus den Falten seines Schirms befreit hatte, stand McLean mit seiner Heugabel über ihm. ›Bist du ein Nazifeind oder einer der unseren?‹ fragte er. ›Kein Nazifeind, Britenfreund‹, erwiderte er mit einiger Schwierigkeit, denn sein verstauchter Knöchel schmerzte ihn sehr. Man half ihm in die Küche des Bauernhauses, und er sagte, er heiße Alfred Horn und wolle den Herzog von Hamilton besuchen, Herr des großen Dungavel-Gutes, 10 Meilen weiter. Er gab zu, daß er von Deutschland gekommen war und eigentlich den Privatflugplatz des Herzogs von Hamilton angesteuert hatte, als ihm das Benzin ausgegangen war und er aussteigen mußte. ›Mein Name ist Alfred Horn‹, wiederholte er mehrmals, als ob er es zu bestätigen suche. ›Bitte, sagen Sie dem Herzog von Hamilton, ich sei angekommen‹ … Der Fallschirmspringer wurde ins Hauptquartier des Zivilschutzes (Home Guard) gebracht, wo sich bald eine aufgeregte, diskutierende Menge versammelt hatte. In der Zwischenzeit wartete auf dem Flugplatz des Herzogs von Hamilton eine Art von offiziellem Empfangskomitee, das sich aus Abwehroffizieren und Geheimagenten zusammensetzte. Die erzwungene Notlandung, 10 Meilen vor dem vereinbarten Treffpunkt, erwies sich als die einzige Panne im ganzen Unternehmen. Vermutlich brachte nur diese Panne die sensationelle Nachricht in die Welt, die ansonsten vielleicht zeitweise oder sogar für immer auf Eis gelegt worden wäre.

Als das sogenannte ›Empfangskomitee‹ von dem Zwischenfall erfahren hatte und schließlich seinen Besucher fand, wurde er von über einem Dutzend trotziger Zivilgardisten geleitet, die ihn keineswegs herausgeben wollten. Es waren langatmige Versicherungen nötig, daß der Mann unter neuer Aufsicht sicher wäre. Auch mußte eine Heeresverstärkung angefordert werden, die den Befehl hatte, mit dem ›Komitee‹ zusammenzuarbeiten. Erst dann gab die Zivilgarde ihren Gefangenen frei.

Immer noch als Alfred Horn wurde Heß in einem Militärfahrzeug zur Maryhill-Kaserne bei Glasgow gebracht. Hier nun wechselte er seine Geschichte: ›Ich komme, um die Menschheit zu retten‹, sagte er. ›Ich bin Rudolf Heß.‹ Er deutete an, daß sein Besuch von einflußreichen Engländern erwartet werde, eine Feststellung, die der Wahrheit näher kam, als er damals wohl vermutete. Seine Identität wurde klargestellt. Zur Behandlung seines Knöchels wurde er in ein Lazarett gebracht, und mit einer schottischen Wache vor seiner Tür verbrachte er auf der britischen Insel seine erste Nacht …

Superspion Kirkpatrick

Hitlers Freund und Stellvertreter wollte die englische Regierung durch die Englisch-Deutsche Gesellschaft indirekt angehen. Vor dem Krieg hatte ihr eine überraschend große Zahl prominenter Engländer angehört. Die tatsächliche Annäherung war nach Churchills Plan so gut wie direkt erfolgt. Ivone Kirkpatrick, im Ersten Weltkrieg ein ausgesprochener Superspion und danach Rat der britischen Botschaft in Berlin, flog nach Schottland, um den Heß-Plan zur direkten Weiterleitung an die Britische Regierung in Empfang zu nehmen. Es war eine Zusammenarbeit eingeleitet, die sich Hitler nicht direkter wünschen konnte. Trotz der Abwesenheit des Herzogs von Hamilton war Heß in diesem Stadium noch überzeugt, es mit Mittelsmännern der Deutsch-Englischen Gesellschaft zu tun zu haben.

Gegenüber Kirkpatrick enthüllte der Nazi zuerst die Einzelheiten des Hitlerschen Waffenstillstands- und Friedensangebots. Er war begeistert und redselig - der stenographisch niedergelegte Bericht umfaßte mehrere Hefte. Heß war sehr optimistisch, zumal er voll überzeugt war, daß England geschlagen sei und deshalb das großherzige Freundschaftsangebot des Führers willkommen heißen müsse. Seine Redeweise war durchaus die eines großmütigen Feindes, der seinem Gegner eine Gnadenfrist gewährt, dessen Untergang andernfalls nicht abzuwenden sei.

Der Friedensplan

Die Bedingungen von Hitlers Friedensvorschlag sind in ganz England diskutiert worden. Das geschah nicht nur in wohlunterrichteten politischen Kreisen, sondern in Kneipen, Luftschutzkellern und in den vornehmen Clubs von Pall Mall. Es war ein zu sorgfältig ausgearbeitetes Geheimnis, um verschwiegen zu bleiben. Kabinettsmitglieder haben es vermutlich ihren Freunden im Parlament und Parlamentsmitglieder ihren Clubfreunden erzählt. So sickerte es durch. Der Filter der Zeit, dazu nachgeprüfte Befragungen - soweit diese bei einem Thema, das offiziell ›tabu‹ ist, vorgenommen werden können - ermöglichen es dem Verfasser, es in großen Zügen darzustellen, wobei auf Einzelheiten verzichtet werden muß:

Hitler bot totale Waffenruhe im Westen an. Deutschland würde seine Wehrmacht aus ganz Frankreich mit Ausnahme Elsaß-Lothringens, das deutsch bleiben sollte, zurückziehen. Deutschland würde auch Holland und Belgien räumen, doch Luxemburg behalten. Ebenso sollten Norwegen und Dänemark freigegeben werden. Kurz gesagt, Hitler wollte - mit Ausnahme der beiden französischen Provinzen und Luxemburgs - sich aus Westeuropa zurückziehen. Dafür sollte Großbritannien einer wohlwollenden Neutralität gegenüber Deutschland zustimmen, wenn es seine Pläne in Osteuropa aufdeckte. Überdies war ›der Führer‹ bereit, sich aus Jugoslawien und Griechenland zurückzuziehen. Die deutsche Wehrmacht würde überhaupt aus dem Mittelmeer als Ganzem zurückgezogen werden, und Hitler würde seine guten Dienste anbieten, im Mittelmeer-Konflikt zwischen England und Italien einen Ausgleich herbeizuführen. Weder ein kriegführendes noch ein neutrales Land dürfe Reparationen von irgendeinem anderen Land fordern, gab Heß weiter an.

Der Friedensvorschlag enthielt noch viele andere Punkte einschließlich Plänen für Volksabstimmungen und Bevölkerungsaustausch, wo dieser infolge der Bevölkerungsverschiebungen auf Grund der militärischen Aktionen in Westeuropa und auf dem Balkan notwendig erscheine. Alle Versionen, die in maßgebenden Kreisen zirkulierten, stimmen in den dargestellten grundlegenden Punkten überein.

In einer niedergelegten Präambel erläuterte Heß die Bedeutung von Hitlers Ostmission ›zur Rettung der Menschheit‹, und er deutete an, wie sehr sie sich zugunsten von Frankreich und England auswirken würde. Dies dürfe nicht nur aus ideologischer und sicherheitspolitischer Sicht gesehen werden, sondern auch wirtschaftlich … Die Niederringung des bolschewistischen Drachens reservierte sich Hitler für Deutschland allein. Dadurch wollte er eine zweifelnde Welt von seinen wohlwollenden Absichten überzeugen. Über Deutschlands militärische Pläne in Osteuropa schwieg sich Heß aus. Nichts war aus ihm herauszubringen.

Zwei Tage lang legte Hitlers Abgesandter seine Vorschläge dar, und Churchills Gehilfen notierten sie. Heß war überzeugt, daß sein Plan angenommen würde. Für die deutsche Denkweise ist es typisch, daß sie die Möglichkeit eines anderen Standpunktes nie einkalkuliert. Heß betonte, daß sein ›Führer‹ sich nicht in spitzfindigen Details verlieren würde - England könne praktisch seine eigenen Friedensbedingungen niederlegen. Aus humanitärer Einstellung sei Hitler nur darauf aus, den ›sinnlosen Krieg‹ mit einer Brudernation zu beenden und damit nebenbei Nachschub und Rückendeckung für seinen Kampf im Osten zu sichern.

Churchills Verrat

Mit diesem ausgefeilten Plan und mit den Erläuterungen des Überbringers in seinen Notizbüchern kehrte Kirkpatrick nach Downing Street 10 zum Sitz des Premierministers zurück. Der Plan wurde Washington zur Stellungnahme übermittelt, und Präsident Roosevelt bestätigte natürlich Churchills Entscheidung. Die Antwort sollte ein glattes ›Nein‹ sein. Jedoch sollen beide Staatsmänner übereingekommen sein, daß eine Öffentliche Diskussion dieses sensationellen Angebots zu jener Zeit unerwünscht sei. Sie entschieden, daß die These der ›Geistesgestörtheit‹, die man dem deutschen Volke vorgesetzt hatte, auch für den Rest der Welt genüge. Im Gegensatz zu den Deutschen und einigen Amerikanern glaubte kein einziger Engländer an jene Geschichte. Sowohl London als auch Washington taten alles, um Rußland vor den kommenden deutschen Schlägen zu warnen …

Heß wurde von Churchills Entscheidung nicht unterrichtet, und man ließ ihn in dem Glauben, daß seine Vorschläge noch hitzig diskutiert würden. Im Lazarett ruhte er sich gut aus und unterhielt sich frei mit seinem Arzt, mit den Schwestern und seinen Bewachern. Er war tolerant und freundlich, bis sein Arzt eines Morgens eine typisch englische Bemerkung über Adolf Hitler machte. Daraufhin machte Heß eine Szene und war für eine Woche mürrisch und schmollte. Als er wieder gehen konnte, wurde er nach London geflogen, wo er mit Lord Beaverbrook, Alfred Duff Cooper und anderen Regierungsführern zusammenkam. Churchill selbst lehnte trotz wiederholter Bitten von Heß ein Zusammentreffen ab.

Erst nachdem er alles erzählt hatte und nichts Wissenswertes mehr beitragen konnte, wurde Heß davon unterrichtet, daß sein Plan völlig abgelehnt worden war und daß England bereits Rußlands Bundesgenosse sei. Um diese Zeit wurde es ihm auch klar, daß bei den Verhandlungen vor seinem Flug die Englisch-Deutsche Gesellschaft ausgeschaltet worden sei - weder der Herzog von Hamilton noch eines ihrer Mitglieder wußten von dem Heß-Besuch, bis es ganz England wußte. Der Schock und die Bestürzung riefen bei Heß einen begrenzten nervösen Zusammenbruch hervor, so daß für eine gewisse Zeit die Nazi-Lüge über seine ›Geistesgestörtheit‹ der Wahrheit nahekam … Heß verlangte, nach Deutschland zurückgeschickt zu werden, weil er als Abgesandter gekommen sei und ihm freie Rückkehr zustehe. Die britische Regierung argumentierte abweichend - immerhin sei er als Abgesand-

ter zu Privatpersonen, nicht zur Regierung direkt gekommen. Infolgedessen werde er als ›Sonder-Kriegsgefangener‹ betrachtet …

Das war nicht das erste Mal, daß England durch einen kühnen Handstreich seines Geheimdienstes ein deutsches Bollwerk zum Einsturz brachte … Sicher ist, daß wenn einmal die ganze Geschichte des britischen Geheimdienstes erzählt werden kann, seine Taten die Welt aufhorchen lassen werden. Darunter wird die Heß Episode sicher ein besonders ruhmreiches Blatt sein.«


Quelle: Deutschland in Geschichte und Gegenwart 30(4) (1982), S. 11-16

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